I. Die Schlichtung wird erzwungen 1 страница



Sunao Tokunaga.Die Straße ohne Sonne (Taiyō no nai Machi, 太陽のない街), 1931.

Handelnde Personen

Mitglieder der Streikleitung:
Hagimura
Takagi, Vorsitzender
Matzusaki, Kassierer
Yshisuka, stellvertretender Vorsitzender
Matsuo, Sekretär
Yamamoto
Yamaura
Kamei
Terraishi Nagata
Ando
Oshima
Matsusawa
Yatsuo, Watamasa, Nakai (illegale Streikleitung)
Oda, Vorsitzender der Hyogikai (Rat der japanischen revolutionären
Gewerkschaften) Tarui, Rechtsanwalt (Mitglied des Zentralkomitees der Rodosha Nomin
To, Arbeiter- und Bauernpartei)
Mitamura, Führer der Druckereigewerkschaft Osaka Rabekawa, Mitglied des Zentralkomitees der Hyogikai Ujenojama, Tsurumi, Verhandlungsbeauftragte

Genossenschaftler:
Hirovka, Sekretär des Genossenschaftsverbandes der Provinz Kanto
ito, Sekretär der Genossenschaft "Kyodasha Koishikawa"
Streikende Arbeiter:
Miatsi, Moriya, von der S. -Abteilung
Kuroiva
Kakekawa
Morohachi, Makabayachi, Gruppenleiter
Matsumoto, Sekretär des Streikbüros
Kindo, Gruppenleiter (Rechter)
Keko, Kiko, Santjan, Jungarbeiter
Heso Hisachita (Hetjan), Lehrling
Kijose, Tomitjan, Kuriere, Schriftsetzer

Streikende Frauen:
Robuko Oja (Robu-tjan, die ''ewige Jungfrau), Vorsitzende
Matsui Shirajama (Matjan, die "Rothaarige")
Takae Haruki (Taka-tjan), Buchbinderin
Okayo Haruki (Kayo-tjan), Buchbinderin
Ogin-tjan, Ablegerin
Fusa-tjan, Buchbinderin
Okimi (Kimi-tjan), Buchbinderin
Sen Ogawa, Streikbrecherin
Matsu Takahachi, Koto Matsuyama, Mutsu Tokura, Streikzellenmitglieder

Arbeiterfrauen:
Otatso, die Alte
Matsudaros Großmutter
Frau Kiko
Frau Gentjan
Die "Nachbarin aus dem Eisland"
Industrielle und Schiedsrichter:
Ynoshita, Stadtverordneter, Direktor der Orientklischeeanstalt,
Vertreter des Druckereiunternehmerverbandes Senso Minayama, Direktor der Tokio-Technik-Druckerei Matsumoto, Direktor der Zeitschrift "Damenwelt" Kunio, Direktor des Yamato-Kodan-Verlags Okawa, Inhaber der Daido-Druckerei, Mitglied des Oberhauses, Leiter des Mitsuifinanzblocks Furuya, Direktor der Daido-Druckerei
Kuroda , Personalchef der Ost-Papierfabrik im Okawa-Trust Baron Shibusaka, Vater und Sohn, Konkurrenten des Okawa, Leiter des Mitsubichi Finanzblocks

Kleinbürger:
Takekawa, Hausbesitzer
Adatji, Besitzer einer Druckereiwerkstatt
Muroto, Polizeidirektor Yoshida, Werkmeister Takayama, Spitzel

 

 

DAS FLUGBLATT

Die Straßenbahn hielt an, Autos wurden jäh gebremst - Lastwagen und Beiwagenmaschinen, die eben noch über die Straßen rasten, stoppten und standen in einer langen Reihe. "Was gibt's?" "Was ist los?"
Die grelle Sonne, die durch den Straßenstaub brach, brannte auf den Gesichtern der sich zusammenballenden Menschen. Die Massen wogten von rückwärts heran wie Kaulquappen. "Eine Parade! Der Prinzregent mit seinem Gefolge fährt zum Seminar. " Flüsternd wurde die Nachricht blitzschnell nach allen Seiten weitergegeben. Die Autos stoppten ihre Maschinen, der Lärm brach ab. Die Leute zogen die Hüte.
Nach ungefähr einer Viertelstunde sahen die in der vordersten Reihe und hinter der goldstrotzenden Uniform eines Polizeileutnants und den salutierenden Händen der Polizisten fünf Autos, die lautlos wie auf einem Filmstreifen vorüberfuhren. An der lackschwarzen Karosserie glänzte im staubigen Licht das kaiserliche Wappen, die goldene Chrysantheme, und blendete, einen Sonnenstrahl brechend, die Augen. Aber die Leute in den hinteren Reihen sahen nur die Mützen der Polizisten. Die Absperrung wurde aufgehoben. Wie ein Strom sprengten die Menschenwellen die Schleusen.
" Au, Teufel, gib doch acht, "schrie in diesem Augenblick ein Mann, der einen japanischen Überwurf (Anm.: Kreisrunde Pellerine, in die für den Kopf ein Loch geschnitten ist.) trug. Ein anderer, mit einem gelben Regenmantel bekleidet, hatte ihn getreten und vor die Brust gestoßen. "Was soll das?"
Einige Leute, die der rücksichtslos Vordrängende gleichfalls gestoßen oder getreten hatte, schrien mit. Der mit dem japanischen Überwurf schob seinen starken Arm vor und packte den andern am Zipfel seines Mantels.
" Verhaftet ihn!" rief der so Angegriffene, und reckte seine rechte Hand über die Menge. "Verhaftet ihn!" Brüllend mühte er sich, gleichsam in der Masse schwimmend, den Angreifer zu erreichen. Im selben Augenblick flatterte eine Menge weißer Papierblätter über allen und fiel langsam auf die Köpfe nieder. "Das war dieser Arbeiter - man soll ihn verhaften!", schrie der Mann, der wie ein Kommissar aussah. Erstaunt ließ der im' japanischen Überwurf den Rock des anderen los; da sprang schon ein uniformierter Polizist vor und gab ihm einen Fußtritt. Er schrie auf. Um sie stieß sich die Menschenmenge. Der Spitzel fiel über ein gestürztes Fahrrad und über ihn hinweg ein Teil der Leute. Man schrie: "Koreaner!"(Anm.: Die Koreaner gelten, als nationale Minderheit, im japanischen Bürgertum als aufrührerisches Element.) "Nein, ein Sozialist!"
Polizei und Zivilbeamte rannten umher und drängten die Massen zurück. Den Arbeiter konnten sie aber nicht wiederfinden. "Habt ihr die Blätter, die eben geworfen wurden, beschlagnahmt?" fragte keuchend der Mann mit dem gelben Mantel die Polizisten. "Ich habe keine mehr gesehen. " "Ich auch nicht." "Unmöglich! Dummheit!"
Bös und unzufrieden wollte er sich umdrehen. "Ach, da ist eins"
Eine alte Frau, die gestürzt war, wollte mit dem Papier ihre Kleider reinigen. "Das ist es!"
Um die ahnungslose Alte drängten die Menschen. Ein Zivilbeamter riß der Frau das Flugblatt aus der Hand.

An die lieben Bürger vom Verwaltungsbezirk Koishikawa und alle Bürger Tokios!
Wir 3000 streikenden Arbeiter von der Daido-Druckerei, mit unseren 15000 Familienmitgliedern, kämpfen schon 50 Tage gegen den Großkapitalisten Okawa, der in gemeinster Weise 38 Schriftgießer entlassen hat, um so die besten Kräfte unserer Druckereigewerkschaft zu vernichten und unseren 15000 Familienangehörigen den Mund vertrocknen zu lassen. Mit der stärksten Unterstützung des Hyogikai, des Rates der revolutionären japanischen Gewerkschaften und der anderen Arbeiterorganisationen werden wir bis zum Sieg gegen den großen Finanzblock des Okawa kämpfen und unser Bollwerk, das in der vordersten Reihe der japanischen Arbeiterbewegung steht, bis zum Tod verteidigen. Bürger des Verwaltungsbezirks Kotshikawa und Bürger Tokios, wir glauben, daß ihr an unserer Seite steht und das Recht der Streikenden unterstützen werdet.
Seiner privaten Interessen wegen ließ Okawa die 15000 Leute hungern, wurden die Händler der Straßen Tosaki, Hisakata, Hakusangoten in die Not gejagt. Okawa, der sich dieses Zustandes nicht schämt, soll endgültig geschlagen werden.
Wir bitten euch im Namen des Rechtes, daß ihr durch eure Unterstützung für uns und durch eure öffentliche Meinung diesen schamlosen Kerl beseitigen hellt und für unseren Sieg eintretet.
Oktober 1926.

Die Versamm1ung der streikenden Arbeiter der Da i do-Druckerei .
Die Kommission der sympathisierenden Bürger des Verwa1tungsbezirks Kotshikawa .

Die Augen des Kriminalkommissars sprangen über die Zeilen wie Vogel zwischen den Ästen. "Ja, das ist es. "
Er flüsterte mit den Polizisten ging in einen Laden, schleppte ein Fahrrad heraus und verschwand.
Die Sirenen der Autos lärmten wieder, die Straßenbahn setzte sich in Bewegung, aber die Massen blieben in Gruppen an der Straßenkreuzung stehen, wie schmutzige Flecken auf einer Kinderzeichnung. Angstvoll flüsterte man untereinander.
" Bestimmt wird heute noch etwas passieren."
" Wegen eines Blattes solchen Lärm zu machen. "
Von der Verkehrspolizei verjagt, stellten sich die Menschen unter die Vordächer der Läden und hinter die Briefkästen. "Es kommt - es kommt was!"
Ungeduldig knatternd kam eine Beiwagenmaschine mit dem Bezirkshauptmann herangeschossen. Der Bezirkshauptmann hatte den Säbel zwischen den Beinen. Die Maschine fuhr in weiter Kurve um den Platz. Ein Polizist sprang heran und legte salutierend die Hand an die Mütze. Der Hauptmann gab ihm hastig flüsternd seine Befehle und fuhr weiter in das Tor zum Seminar. Etwa zehn Minuten später kam in eiligem Lauf eine halbe Hundertschaft Polizisten, die vom Haupttor des Seminars bis zum Platz in zwei Reihen Aufstellung nahmen. Sie standen mechanisch und ausdruckslos und sahen aus wie gestellte Photographien.

 

 

II. Oben und unten

Der Prinzregent war in ausgezeichneter Laune. Als er in dem neuangeschafften Prachtsessel unter dem Baldachin saß und die Schule begrüßte, kamen dem streng kaisertreuen Schulvorsteher Tränen in die Augen.
Die Sonne des Herbstes schien warm und schön.
Seine Hoheit der Prinzregent trat unter Führung des alten Vorstehers in den Garten der Schule, um seinen Gedächtnisbaum zu pflanzen. Weit und hügelig streckte sich der Garten, in dessen Mitte ein großen Teich lag. Es gab viele Bäume in üppigem Grün, Kiefern, Fichten, Zedern, deren dicht verflochtene Äste ihr hohes Alter ahnen ließen. Über ein Tal, in dem kein Wasser floß, war eine Empfangsbrücke gebaut. In eleganten Vormittagsanzügen kamen die Zylinderhüte und Säbel der Begleitung hinter der Hoheit.
Mitten auf der Brücke blieb der hohe Herr plötzlich stehen. Der alte Vorsteher erschrak und sah den Prinzen an. Ein Adjutant sagte verbindlich zum Vorsteher:
" Schöne Aussicht, in der Tat. Ich dachte nicht, daß man in Tokio eine so schöne Landschaft sehen kann. "
Wirklich war die Aussicht von dieser Brücke nach Südosten so schön, daß sie den Aufenthalt seiner Hoheit wert war. In sattem Grün zog sich der Wald vom Grunde des Tals die Hügel hinan. Der alte Vorsteher begann zu erklären:
" Der vor Ihnen liegende Teil wurde zur Zeit der Dynastie Tokugawa angelegt. Vorn der Tempel des Fürsten Tokugawa, er wird Hak-san-Tempel genannt. Ursprünglich war er ein Landhaus des Fürsten. Auf der rechten Seite lag, meiner bescheidenen Meinung nach, das Haus des Prinzen Date und daneben das Haus des Großfürsten Abe!" Die Begleiter folgten dem Finger des Alten.
" Unterhalb des Waldes, am Abhang des Berges, liegt der botanische Garten, dort, wo ehemals der Kräutergarten Tokugawas war. Gerade gegenüber auf dem Berg, der sich bis hierher zieht, stand das Haus des Fürsten Matsudaira, heute Shimizudani genannt." Der Prinzregent, der mit großem Interesse die Erklärungen angehört hatte, unterbrach plötzlich den Vorsteher:
" Dann muß zwischen jenem Berg und diesem hier ein Tal liegen: ich möchte es gerne sehen!" "Wie Hoheit befehlen!"
Der Vorsteher erschrak tief und strich sich über die Stirn, die bis zum Wirbel kahl war. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und sagte entschlossen:
" Dieses Tal hieß früher Senkawa-Kanal. Der Kanal hatte klares Wasser, und das Ganze war von großem landschaftlichem Reiz. Aber jetzt hat man den ganzen Lauf des Kanals mitsamt den Ufern umgegraben, und an ihrer Stelle stehen heute Fabriken und vier Straßen. Etwa 30000 bis 40 000 Bürger wohnen in diesem Tale." Die Zylinderhüte wunderten sich. "Oho - hinter diesem Wald - so, so."
Auch die Uniformen wunderten sich - wenn sie ein Fernglas gehabt hätten, würden sie aus reinem Berufsinteresse festgestellt haben, wie groß der Raum war, den diese Quartiere hinter dem Wald einnahmen. Mit bloßem Auge jedoch konnte man das nicht feststellen. Zum Glück gab sich Seine Hoheit mit dieser Auskunft zufrieden und setzte ihren Weg fort. Der Vorsteher beruhigte sich. Selbst dieser alte Pädagoge, der von den Dingen dieser Welt sehr wenig erfuhr, wußte, daß in diesem Tal, das kaum eine Quadratmeile groß war, das schlimmste Armenviertel Tokios lag. Und er wußte auch, daß dieser früher so schöne Senkawa-Kanal heute alle schmutzigen Abwässer aufnahm, in der Regenzeit im Frühsommer und Herbst über die Ufer stieg und in die Häuser trat, so daß in dieser Zeit die 40000 Bürger ihre Betten unter die Decke hängen mußten. Unter ihnen gurgelte das stinkende Wasser.
Das Projekt, diesen Kanal zu verbessern, war immer ein gutes Objekt für die Referenten der Stadt- und Bezirksverordnetenwahlen. Es war aber im Rathaus noch niemals ernstlich in Angriff genommen worden, und deshalb waren in diesem Frühjahr die Mädchen dieses Viertels demonstrierend in das Rathaus eingedrungen. Der alte Vorsteher wußte das alles, und gerade deshalb fühlte er die ernste Gefahr des Streiks der Daido-Druckerei, die dort lag. Von Tag zu Tag hatte er die Entwicklung der Dinge kommen sehen: Es war zu erwarten, daß es noch an diesem Abend zu Gewalttätigkeiten kommen würde.

Die Sonne spielte von Berg zu Berg ihr Versteckspiel. Niemals kamen ihre Strahlen in das Tal. Die "Straße im Tal" war in Wahrheit "die Straße ohne Sonne". Die Senkawa-Rinne hatte vollkommen ihre alte Gestalt verloren. Über ihr hingen die kleinen Balkone der Arbeiterbaracken; auch die Küchen und die Aborte waren zum Teil über den Graben gebaut. Die Rinne wurde mit Aschehaufen, zerbrochenen Flaschen, Lumpen und Papier zugeworfen und bewies nur durch die periodischen Überflutungen ihre Existenz. Diese Senkawa-Kloake war die Mitte der Straße im Tal und gleichzeitig ihr Symbol. Je weiter man von ihr fort, den Abhang des Berges hinaufstieg, desto reicher wurden die Bewohner; es hieß gleichzeitig, daß man sich von dem schmutzigen Wasser entfernte und der Sonne näher kam. Hier war das Barometer, das die verschiedenen Klassen der Gesellschaft anzeigte. Die Meister und Angestellten fanden nichts Sonderbares daran. Denn auf der Spitze dos Hügels stand das Haus des Okawa neben den großen Häusern des Matsudaira, aus dem bekannten Adelsgeschlecht. Die Daido-Druckereigesellschaft lag in der Mitte des Senkawa-Viertels. Von ihrem Tor führte eine neun Meter breite Straße durch den Berghang mitten zwischen die Baracken: das war die einzige Hauptstraße dieses Viertels. An ihr lagen die Läden der Kleinhändler: Kleine Speisehäuser, Kneipen, Fischläden, Manufakturwarenhandlungen, Apotheken, Schnapsbudiken und die Kramläden, in denen alles zu haben war. Die Fischhändler und Kleinkrämer hatten nicht nötig, schon frühmorgens auf den Markt zu gehen. Auf den Märkten gibt es so früh keine Waren, die für diese Barackenleute passen. Die Händler kannten ihre Konsumenten und die Kaufkraft ihrer Taschen genau. Die Arbeiter verbringen den größten Teil des Tages in der Fabrik und müssen in den kurzen Nachtstunden alle dürftigen Freuden ihres Lebens genießen - essen, in der Kneipe den billigsten Reiswein trinken und in den öffentlichen Badehäusern den Alkohol wieder ausgären - das alles in diese kurze Stunde gedrängt, ist ihr normaler Tag. In kleinen zwölf Quadratmeter großen Kammern, in die kein Licht kommt, leben und schlafen fünf bis sechs Menschen einer Familie. Wenn die Schwester keinen Mann findet, oder der jüngste Sohn nicht in eine andere Familie heiratet, kann der ältere Bruder seine eigene Frau nicht in sein Haus
holen.
" Aber mein Lieber, es ist doch eine Schande, seine Familie auch
nachts noch mit seiner Frau zu belästigen!" Aber das ist kein Witz, das ist bitterer Ernst.
Die Minner und Frauen in der Fabrik kannten sich alle. Das Gemeinsame, das sie verband, war''die Liebe der Fabrik." Aber seit dem Beginn des Streiks fanden sich alle verändert. Sie sahen blaß und verwelkt aus. Die Fabrik war das Element ihres Lebens, die gewohnte Umgebung drückte allen denselben Stempel auf, so daß sie sich gegenseitig, schön fanden. Die Frauen trugen einen schwarzen Kittel und eine weiße Schürze, die Arbeiter ihre Arbeitskleider mit weißen Hemden -das sah bekannt und daher vertraut aus.
Aber jetzt hatten nicht nur die jungen Leute diese ermüdeten, gleichförmigen und schnell zum Zorn gereizten Gesichter. Und nicht nur die Menschen - die ganze Straße ohne Sonne, auch die Ziegelgebäude der Fabrik, die sehr böse und ganz leer und stolz aussahen. Die Kleinhändler der Hauptstraße, die Frauen in den Baracken und die umherziehenden Spielwarenhändler, die von den Groschen der Kinder lebten - alle
waren böse.
Sie fühlten, daß ihnen etwas in der Kehle steckte, sie waren sehr gehetzt, gereizt und ungeduldig. Sie wußten nicht, was es war. "Teufel nochmal, nieder damit!" Immer schienen solche Ausbrüche der Wut auf ihren Lippen zu liegen.

 

III. Bewohner

"Und deshalb Vater, sprich mit der Schwester, wenn sie zurückkommt, ich kann nichts dafür - -"
Okayo war in Bedrängnis, sie wartete sehnlichst auf ihre Schwester Takae. Obwohl Okayo sehr schüchtern war und keine Worte fand, den kranken Vater zu überzeugen, brachte sie es nicht über sich, diesen Streik zu verraten. Unwillkürlich mußte sie sich vor dem Vater, der mit zornblassem Gesicht bat und drohte, auf den Namen der Schwester berufen. Solche Macht hatte die ältere Schwester über den Vater. "Ausgeschlossen, diese Wahnwitzige würde nicht verstehen, was ich sage. Aber du, Okayo- -"
Das Gesicht des Kranken verzog sich vor Schmerz. Der Schmerz wütete in seinen Gelenken, die in der Kälte zitterten. Mit den Augen zwang er Okayo, die mit dem Kessel in die Küche wollte, zu bleiben. "Selbst du redest bei jedem zweiten Wort von Verrat und so - - aber das ist alles Unsinn - -"
Hartnäckig bestand der Kranke darauf, daß Okayo unbedingt in die Fabrik gehen müsse. Er wollte sein Versprechen, das er dem Meister Yoshida gegeben hatte, halten. Denn er hielt ihn für seinen Wohltäter. "Ich alter Mann und ihr Mädchen, wir müssen der Gesellschaft dankbar sein. Wir haben bis jetzt von dem Reis der Gesellschaft gelebt. Die tote Mutter dachte auch so und ihr müßt ebenso denken. " Okayo dachte an ganz andere Dinge - ich muß gleich Abendessen bereiten, die Schwester muß gleich zurück sein. Die Schwester ging mit anderen Mädchen in die Stadt als Wanderhändlerin, um für den Streik Geld zu verdienen.
" Na, wenn es soweit ist, werde ich Takae verstoßen und fortjagen. Wem du nur willst, wird Herr Yoshida dich morgen schon in der Fabrik einstellen, ohne daß die Leute, die streiken, davon wissen, hörst du?" "Um Gotteswillen - -"
Sie sah in die bösen Augen des Vaters und fühlte, wie ihre Liebe zu ihm schwand.
" Vater, dann hast du es dem Herrn Yoshida versprochen - ja?" Sie sah dem Vater scharf in die Augen und wollte aufstehen; ihre junge Stirn war blaß.
" Also, willst du nicht gehen?"
Der Kranke richtete sich mühsam auf und wollte das Mädchen am Kleid festhalten. Während sie sich voller Angst zurückzog, hörte sie Takae kommen und war sehr froh. Der Vater brummte böse. "Du bist mir die Richtige, so mit deinem Vater zu zanken. " Takae kam lächelnd herein, sie klopfte den Staub von ihren Strümpfen. Der Kranke war recht enttäuscht, wollte aber heute nicht, wie sonst immer zurücktreten. Böse sah er von Okayo zu Takae. "Draußen weht ein starker Wind... ach, ich bin so müde." Sie saß abgespannt und müde da, aber sie sagte mit betonter Munterkeit:
" In der alten Baracke ist es doch wärmer als draußen, sie ist ihre 15 Yen 50 Sen Miete wert."
Takae tat als hätte sie von dem Streit zwischen dem Vater und ihrer Schwester nichts gemerkt.
" Kayo-tjan, sei lieb und mach was zu essen, ich kann mich vor Huriger
nicht mehr bewegen."
Okayo wollte die Gelegenheit wahrnehmen, um aufzustehen und hinauszugehen.
" Bleib!" bellte der Vater. Okayo zögerte.
" Was ist denn mit euch, was habt ihr?"
Wenn man ihn so fragte, konnte er nicht in dem Ton weiterbrüllen. "Was hast du denn, Kayo-tjan, du siehst so mutlos aus?" Takae war nur drei Jahre älter, aber sie hatte an Okayo Mutterstelle
vertreten.
" Vater hat sicher wieder angefangen zu jammern. Laß ihn nur. Man muß
nicht böse werden, wenn er ein bißchen irre denkt."
Okayos Mund verzog sich unwillkürlich zu einem Lächeln.
" Was - du verrücktes Weib, du bist selbst irre und du verachtest deinen
Vater."
Der Kranke schrie, nahm die Teetasse, die neben seinem Kissen stand und warf sie nach Takae. Die Tasse traf das Ohr des Mädchens und fiel auf den Boden.
" O weh!"
Sie griff mit der Hand an ihr Ohr, aber sie regte sich nicht weiter auf. "Vater, ich verachte dich gar nicht, ich habe es gewiß nicht so gemeint. Aber du solltest mich auch nicht verachten."
Okayo ging in die Küche, um das Abendessen zu machen. Takae sagte, während sie ihre Waren, Seife und Federhalter ordnete: "Hör mal, Vater, du denkst falsch. Jedes zweite Wort das du schreist, ist wahnsinniges Weib. Die Zeiten haben sich heute geändert gegen damals, wo dich der vorige Besitzer so 'geliebt' hat und du deine Hand in der Schneidemaschine verloren hast."
Takae streichelte ihr schmerzendes Ohr und fuhr leise fort: "Für dich sehen wir vielleicht wahnsinnig aus. Von unserer Seite aus aber, muß ich leider sagen, bist du ein bißchen garstig und komisch." Der Kranke warf sich herum und drehte sein Gesicht der Wand zu. Dann wurde Licht angezündet und Okayo stellte einen kleinen Eßtisch neben den Kranken. In gewöhnlichen Zeiten erklangen, wenn die Lampen angezündet wurden, die Glocken der Fabrik, die Gegend wurde lebhaft und lärmend - die Arbeiter kamen aus der Fabrik in die Baracken, als würde eine Herde in den Stall getrieben; dann schrien die Säuglinge und die Frauen schalten. Aber jetzt wurde der Tag dunkel und hell und lautlos, wie eine Kuckucksuhr mit zerbrochener Feder. Leer, müde und unzufrieden. "Hast du viel verkauft?" Okayo setzte sich neben ihre Schwester und nahm ihre Stäbchen. Vorher
hat'? sie dem Vater Essen gegeben.
" Nicht besonders. Man verkauft jetzt so immer dieselbe Menge. Die Leute sind schon an uns gewöhnt. "
" Dann bleibt doch lieber bei dem Geschäft, als daß ihr wieder Buchbinderinnen spielt. Ausgesperrt seid ihr so oder so -vielleicht tut ihr euch fünf oder sechs zusammen. "
" Wenn wir dabei singen und trommeln, dann sehen wir gerade so aus -" "Wieso?"
" Wie die Kinder aus dem Waisenhaus. "
Sie fingen an zu lachen, aber das Lachen hatte einen bitteren Beigeschmack. Besonders Okayo konnte ihr Lachen nicht verbeißen. Solch ein Mädchen von achtzehn Jahren lacht schon, wenn sich nur die Blätter am Baum bewegen; solch ein Mädchen, das noch jeden Tag schöner wird. Okayo hatte ein weißes, wohlgeformtes Gesicht. Wie Takae die Schwester ansah, schien ihr, das Mädchen müsse immer glücklich bleiben, und dabei fiel ihr etwas ein. "Heut' hab' ich Miatji getroffen." "Wo?"
Okayo hob den Kopf.
" In Dosaka im Hongo-Bezirk, mit vier oder fünf anderen zusammen, Hagimura war auch dabei. Die anderen kannte ich nicht, aber ich glaube, sie gehören alle zu einer S-Abteilung." "So? Was machen sie eigentlich?"
" Ich weiß es auch nicht. Die Sachen der S-Abteilung sind streng geheim." "Machen sie etwas Gefährliches?" Okayo glaubte, die Schwester wisse Bescheid.
" Ich weiß es nicht------"
Selbst die einzelnen Streikleiter wußten es nicht. Und wenn sie es wußten, würden sie nicht darüber sprechen. Die Arbeit der S-Abteilung soll geheim bleiben. Takae hatte aber schon wieder den ernsten Ton aufgegeben:
" Und Miatji hat naoh dir gefragt. " "Ach."
Sie wurde rot.
" Und da haben die andern ihn gehänselt, und Miatji war ganz verlegen." Takae wußte längst, daß Okayo und Miatji sich liebten. Der Gedanke an die Entwicklung dieser Liebe, von der schon die anderen Arbeiter redeten, beunruhigte sie. Ein wenig Eifersucht war dabei und sehr viel schwesterliche Liebe.
Die beiden hatten ihr Essen verzehrt. Unversehens war das Geplauder verstummt. Sie gingen zusammen in das öffentliche Bad. Takae machte sich Vorwürfe , weil sie der Schwester so zugesetzt hatte. Okayo wurde nach derartigen Gesprächen immer sehr lebhaft und schminkte sich lange vor dem Spiegel. "Vielleicht bin ich auch in Miatji verliebt - -."
Takae mochte nicht daran denken. Sie verließ vor der Schwester das
Bad.
Auf der Senkawa-Brücke standen fünf oder sechs junge Männer. Eigentlich war es schon zu kalt, um sich auf der Straße zu treffen, aber sie hatten sonst keinen Raum, in dem sie sich versammeln konnten. "Hallo, Taka-tjan, hast du gebadet?" rief ein Junge in gelber Matrosenhose und Arbeiterbluse, die Mütze schief über das Ohr gezogen. "Wer bist du denn? Ah, der Ke-ko, du bist der Richtige!" Sie gab dem Burschen die Hand, mit der andern nahm sie ihm seine
Mütze fort.
" Oha, warte, Taka-tjan, du darfst sie nicht in den Graben werfen!" Ke-ko spitzte vor Verlegenheit den Mund. Die andern amüsierten sich und klatschten in die Hände.
" Schadet nichts, die Mütze ist so schon schmutzig. Kauf dir eine bessere, wenn du eine Freundin willst."
Takae in ihrer Ausgelassenheit mußte sich selbst mit dem Siebzehnjährigen necken. Ke-ko sprang zu und ergriff sie am Arm. "Was, du willst mit mir raufen? Komm doch heran!" Takae hatte seinen Hals mit beiden Händen gefaßt und schüttelte ihn. "Ke-ko, Kerl, du hast Glück", riefen lachend die andern. Takaes Arme entblößten sich bis zur Schulter und leuchteten in der
Dunkelheit.
" Guten Abend."
Okayo trat hinzu.
" O, hast du dich schön gemacht, gib mir deine Hand", näherte sich
ihr ein Junge. "Hör bloß auf."
Okayo hatte seine Hand zurückgestoßen und ging zu Ki-ko, der ein bißchen närrisch mit einer Mundharmonika vor dem Mund dumm vor sich
hinlächelte.
" Spiel uns eins------"
" Vielleicht 'Karabon'."
Ki-ko begann zu spielen, zwischen seinen vorstehenden Zähnen hielt
er das Instrument.
" Hör auf damit, hör auf. Spiel lieber das rote Fahnenlied", rief Takae,
die immer noch Ke-ko am Hals hielt.
" Ja natürlich, das Lied von der roten Fahne."
Sie gehörten alle zu den Streikenden und waren aus verschiedenen Gruppen.
Das schwarze Wasser des Senkawa-Kanals floß langsam und träge abwärts, auf seinem Grunde leuchtete eine Porzellanscherbe oder ein Flaschenhals, ein Fischkopf trieb auf dem Wasser. Am Himmel stand die Mondsichel angenagelt, wie auf dem Hintergrund eines Theaters. "Rote Fahne, Fahne der Massen------."
Tief und stark klang die Melodie durch die Nacht, unter der Tausende von Baracken schweigend und gedrückt lagen.
Am Ende der Barackenreihe standen die Ziegelgebäude der Fabrik, wie das Teufelsschloß im Märchen. Das war der Punkt, gegen den die Jungen ihr Lied schmetterten.
Feiglinge geht,
wenn ihr wollt------"
Die Jungen und Mädchen auf der Brücke schlugen lebhaft mit der Hand die Melodie und stampften den Takt auf den Brückenbohlen. Ki-ko spielte weiter, bis ihm der Speichel vom Munde floß.


Дата добавления: 2018-02-15; просмотров: 862; Мы поможем в написании вашей работы!

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