I. Die Schlichtung wird erzwungen 8 страница
IV. Vorposten
Der kranke, alte Vater konnte nicht schlafen. Als die Dämmerung kam, hörte er die Hagelkörner gegen die Holztür trommeln, auf das Blechdach und auf die treibenden Eisschollen des Senkawa-Kanals. Die Baracke wurde jetzt einsam und still, nicht einmal die Schreie der Kinder waren mehr zu hören. Das Reißen in seinen Gelenken wurde durch die Kälte noch ärger, er umklammerte krampfhaft die Kissen, um die Schmerzen zu lindern. Große Tränen standen ihm auf den Backen. "Die verfluchte Hexe!"
Der Alte meinte immer noch, Takae trage an allem schuld, auch an der Verhaftung dieser netten schüchternen Okayo. Seit sich die Gewerkschaft in der Fabrik eingerichtet hat, opponierte die Älteste immer heftiger gegen die Meinung ihres Vaters - sie, die bis dahin so kindlich gewesen war, wurde immer selbständiger und setzte ihren Kopf gegen den Vater durch.
" Hat den Teufel im Leib, dieses wahnsinnige Weib. " Wäre er gesund und hätte noch seine rechte Hand, wollte er sie schon schlagen und zurichten, bis sie wieder zur Vernunft käme. Der Kranke sah auf die alten Bücherregale, die am Fenster neben dem Tisch standen - da lagen ungefähr zehn Bücher, dünne Broschüren mit rotem Deckel und dicke Bücher mit Goldaufschrift, die eigentlich nur Gelehrte lesen sollten. Der Alte erinnerte sich, in diesen Büchern las Takae immer, wenn sie von der Nachtarbeit zurückkam; dann saß sie im Bett und las.
" Sie haben schuld, diese Bücher - diese verdammten Dinger haben Takae verrückt gemacht!"
Der Kranke stand auf, stützte seinen Körper an der Wand und kroch zum Bücherbrett, alle Kraft sammelte er in dem wankenden Fuß. Durch das geöffnete Fenster zog der Wind und riß in den Knochen des Alten. Der Kranke schob das Fenster hoch und griff mit der noch nicht ganz gelähmten Linken nach den Büchern. "Verschwindet, ihr Teufel!"
Die Bücher flatterten lautlos in das schwarze Wasser des Kanals und tauchten unter. In der kalten, allmählich heller werdenden Luft sah er die weißen Blätter versinken.
" Sei doch nicht so unduldsam, Vater" schrie die Nachbarin, als sie die wilden Augen und den pfeifenden Atem des Alten sah, den jedes Buch, das er fortwarf, mit neuem Haß erfüllte. "Nein, nein, ich werde all diese Teufel ersäufen." Er schlug nach ihrer Hand, die sich ihm entgegenstreckte. Ein paar Bücher waren auf den Grund gesunken, andere schwammen, vom Wasser, das durch die Eisspalten hochquoll, fortgerissen weiter. Über der kalten Wasserfläche lag dünner Nebel.
Wie der Staub und die Lumpen auf dem Senkawa-Kanal waren auch die Waren in den Lebensmittel- und Weinhandlungen, in den Küchen- und Grünkramgeschäften weniger geworden. Jetzt, wo sich keine Gemüsereste und Lumpen mehr in den Netzen fingen, blieben auch keine Waren bei den Händlern. Seit die Fabriksirene nicht mehr im Bezirk Kotshikawa heulte, war die Schlagader der Straße im Tal durchschnitten worden. Und die großen Fabrikanlagen lagen in der kalten Luft wie riesige Kadaver von Wasserpferden.
Die Kleinhändler waren in großer Verlegenheit. Sie wählten ihre Vertreter und setzten ein Komitee ein, in dem es viel Arbeit und lächerliche Diskussionen gab, sie baten jeden, der irgendwelchen Einfluß besaß, in diesem Streik zu vermitteln.
Ihre Diskussionen waren deshalb so komisch, weil sie sich selbst traurigerweise für neutral hielten. Sie gingen zu den großen Herren des Bezirks und klagten den ehrenamtlichen Stadträten ihre Not. Immerfort jammerten sie, sie seien gezwungen, zusammen mit den Streikenden zu sterben. Aber diese Ehrenleute an die sich die Kleinhändler Wandten, waren letzten Endes auch nur indirekte Angestellte der Gesellschaft. Und während die guten Kleinhändler glaubten, in diesem Streik neutral bleiben zu können, erwachte in den gestrengen Kritikern, den großen Leuten des Bezirks und den Ehrenmännern im Magistrat das Klassenbewußtsein, und sie wußten ganz genau, was sie zu tun hatten. Immer mehr Läden standen in der Hauptstraße leer, immer weniger elektrische Lampen brannten, und die Dunkelheit eroberte die Straßen. Die Zahl der Mädchen, die abends in verdächtige Kaffees und Weinhandlungen gingen, um am Morgen mit blassem Gesicht zurückzukommen, wuchs von Tag zu Tag.
" Sei doch nicht so eigensinnig, Vater, morgen oder übermorgen kommen sie bestimmt wieder, sie sind doch keine Diebe oder Brandstifter", sagte die Nachbarin tröstend in ihrem nordjapanischen Dialekt und brachte den Kranken ins Bett. Sie hatte alle zwei Jahre ein Kind geboren, der letzte Säugling lag unterernährt mit glänzenden Augen an ihrer nackten Brust, er konnte nicht mehr weinen.
" Aber es ist wirklich schlimm, wenn der Streik noch lange dauert, Vater, es ist Zeit, daß die Fabrik nachgibt."
Der Kranke biß seine zitternden Zähne zusammen und vergrub sich in
den Kissen.
Die Nachbarin ging nachts mit ihren beiden Kindern Eßwaren verkaufen.
Ihr Körper war wild und gesund wie ihre Sprache.
Aber die Gesellschaft wird nicht nachgeben. Sie nehmen nur neue Arbeiter." Der Alte konnte seine Zunge nicht im Zaum halten."
" Was?" sah die Frau den Kranken an, der ganz verlegen wurde.
" Nein... ich... weiß nicht, ob es wahr ist oder nicht, ich habe das nur so von Herrn Yoshida gehört.! - Aber das ist doch nicht schlimm." Der kranke Vater schielte ängstlich in das weiße Gesicht der Frau, die im Schneeland (Anm.: Auf Hokkaido, der Nordinsel Japans) geboren war."
" Woher kennst du denn Yoshida?"
Die Frau legte die Feuerschaufel, in der sie Glut für den kleinen Ofen den Kranken gebracht hatte, auf den Boden.
" Er war mein Meister. " Vor Überraschung schwieg die Nachbarin, die auch in diesen Büchern
gelesen hatte.
" Aber Vater, es hat doch keiner gesehen, daß Arbeiter in die Fabrik gehen,"
Die Frau suchte nach einem rettenden Gedanken.
" Nein, man hat die Männer unter Planen wie die Säcke auf Pferdewagen
in die Fabrik gefahren. "
Das Unwetter hatte nachgelassen, nur zuweilen klapperten die vom Wind gejagten Hagelschauer eintönig gegen die Haustür. "Ah, so macht man das!"
Jetzt begriff die Frau manches - der Mann von Oka-tjan, die auf der anderen Seite wohnte, war seit zwei Tagen nicht gesehen worden, und Harbo, ein anderer Nachbar, war gestern nacht auch nicht heimgekommen. Sie schlug ihr Kleid um das Kind, das sie auf dem Rücken trug, und legte die mitgebrachten Holzkohlen in den Porzellanofen. "Nur nicht bange sein, Vater, und nicht ungeduldig werden - ich bringe dir nachher, wenn ich es fertig habe, zu essen." Das Holzbrett über dem Graben klapperte, als die Nachbarin nach Hause ging.
Auf der Hauptstraße, an der Ecke der dritten Barackenreihe, stand ein Handwagen. Mit vorsichtigen Schritten ging ein Lumpenhändler den Weg, der zu den Baracken führte, hinunter. Er hatte sein Gesicht in einem schwarzen Schal versteckt, ein Mann im Arbeitskittel ging hinter ihm. Die beiden traten in die erste Tür der Baracke, in der auch Takaes Familie wohnte. Sie kamen nach kaum zwei Minuten mit einem großen Bündel beladen, - es sah aus, als sei ein Mensch darin - heraus und luden es auf den Wagen.
Dann fuhr der Lumpenhändler den Wagen in das Hintertor der Fabrik, kam allein zurück und ging in die Gasse zwischen der dritten und vierten Barackenreihe.
Mitten auf der schmalen, ungefähr einen Meter breiten Gasse blieb er erstaunt stehen. Vor ihm standen zwei Burschen, ebenso erstaunt wie er selbst - und diese Jungen hatten ihn gleich an den Augen erkannt, denn der schwarze Schal ließ nur seine Augen frei. Wortlos starrten sie einander an. Der eine Junge war klein und hatte einen lächerlich großen Kopf, der andere lang und aufgeschossen, mit auffallend dicken Backen; beide standen auf Vorposten und sollten gerade diesen Lumpenhändler aufspüren. Aber der war ihnen jetzt über: dieser Lumpenhändler war ihr Meister, und wenn sie mit ihm allein waren, wurden sie ängstlich und feige.
" Sanko!" rief der Lumpenhändler den großköpfigen Jungen an; er verstand nicht, was die Jungen hier machten und suchte in den Bewegungen ihrer Augen ihr Vorhaben zu erkennen.
Alle drei schwiegen und hielten den Atem an, aber bald hatte der Lumpenhändler wieder seine Überlegenheit über diese Burschen gefunden, die nur seine Untergebenen und grüne Jungen waren. "Ihr seid doch noch Kinder, macht keine Dummheiten, habt ihr denn ganz alle Dankbarkeit vergessen?" "Dankbarkeit - -?"
Die beiden sahen sich groß an, Sanko legte den Kopf schief zwischen seinen schmutzigen Kragen und sah den Mann wütend an.
" Dummer Esel", schimpften beide wie aus einem Munde, drehten sich auf den Hacken herum und verschwanden schnell in den Gassen. Dem Lumpenhändler kroch die Furcht vor etwas Unbekanntem von den Füßen über den ganzen Leib. Er zog den Kopf ein, lief schnell den Weg zurück und ging dann eilends über die Hauptstraße.
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Zwei Stunden nach dieser komischen Szene stand der Lumpenhändler oben am Abhang des botanischen Gartens allein mit seinem Handwagen; der Mann im Arbeitskittel war nicht mehr bei ihm.
Im Nachmittagswind zitterten unruhig die kahlen Köpfe der Bäume, drüben stand als dunkler Hintergrund die Ziegelmauer der Blinden- und Taubstummenschule und trotz der Wegkreuzung kamen hier nur sehr wenige Menschen vorbei. Der Lumpenhändler ging mit kleinen Schritten an der Ziegelmauer auf und ab.
Jetzt kam ein junger Mann im schwarzen Mantel, mit braunem Halstuch von der Straßenbahn über den Abhang hierher. Der Lumpenhändler beachtete ihn kaum, weil dahinter noch mehr Leute kamen. Der junge Mann steckte die Hand in die Tasche und kam eilig mit gesenktem Kopf heran: kurz vor dem Lumpenhändler zog er ein Taschentuch heraus und schneuzte sich umständlich. Dann nahm er wieder seine frühere Haltung an und mischte sich unter die Passanten. Ein Radfahrer fuhr vorbei, ein Pferdefuhrwerk kam den Abhang herauf, eine Frau, ein Kind, ein Student, ein Mann mit einem europäischen Anzug.
Der junge Mann verließ auffällig den Fußweg und streifte den Lumpenhändler. Im selben Augenblick zog er seine rechte Hand aus der Tasche "Hund!" Er stieß zu, und ehe das Schimpfwort noch verklungen war, stürzte der Lumpenhändler ohne einen Laut nieder.
Die Bäume des Botanischen Gartens zitterten leicht und der Wind trug das Rattern der Straßenbahn herüber - Student, Kind, Frau, Hund, Radfahrer und der Mann mit dem europäischen Anzug waren vorüber - - -. Eine Hand gegen den Bauch gedrückt, stöhnte der Lumpenhändler mit heiserer Stimme: "Ich bin gestochen. "
Als sich aber endlich neue Straßenpassanten um den Lumpenhändler sammelten, war der Junge längst verschwunden.
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V. Himmel und Hölle
So lange saß Takae schon in der Tiefe des viereckigen Sarges aus Eisenbeton, daß sie das Bewußtsein von Zeit und Stunde verloren hatte. In diesem Sarg gab es keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht.
In der immerwährenden Dämmerung und Finsternis dieses Steinkastens bewegten sich fünf oder sechs Schatten von Menschen. Die gelbe Dämmerung, die kaum die Gesichter erkennen ließ, tropfte aus unerreichbarer Höhe wie aus einem trüben Auge in die Zelle. Man hatte alle voneinander getrennt. Takae konnte nicht wissen, wohin Okayo und Oja gebracht waren. Sie spitzte ihre Ohren nach jedem kleinsten Geräusch, das sich schmerzhaft durch die dicke Betonwand zu ihr hineinschmuggeln mußte.
Und die Schwester in anderen Umständen. Hier, in diesem Loch! Ununterbrochen wurde in der Zelle gelärmt. Ein paar alte schrien ohne Pause aufeinander ein.
Als sie sich einmal etwas beruhigt hatten, kam eine mit unruhigen Augen zu Takae, um sich mit der Neuangekommenen zu unterhalten. In der Zelle waren noch eine alte fünfzigjährige Frau mit verschlafenem, fettigem Gesicht, ein alter Landstreicher, der aussah, wie eine mit Lumpen umwickelte Stange, und ein Knabe, der einem Lumpenknäuel glich.
Der Alte schien sich nie mehr bewegen zu wollen, er krächzte nur immerfort und hatte wohl nicht mehr lange zu leben. Die Dirne, eine Gewohnheitsverbrecherin sagte, daß sie alle zwei bis drei Monate auf 29 Tage hierher müsse. "Aber da kam man nichts machen, das ist mein Beruf." Sie schien fest daran zu glauben.
" Na, die Polizei kann auch nicht dagegen an, und wenn sie noch so feierliche Gesichter machen -", sie grinste gemein und machte eine unanständige Geste, auf die sie scheinbar stolz war, so daß Takae von diesem Abhub ihres Geschlechts die Augen wenden mußte. Vielleicht war jetzt draußen Nacht. Die Schritte der Gefängniswärter hallten auf dem Betonboden in den eiskalten Korridoren wider. Die Gefangenen hatten nur dünne, schmutzige Decken gegen die Kälte. Die Dirne fragte etwas unbestimmt, wobei sie ihre gelben, fauligen Zähne zeigte:
" Wo is'n dein Strich?"
Sie meinte natürlich, Takae müßte denselben Beruf haben wie sie. Als Takae den Kopf schüttelte, wollte sie es nicht glauben. "Aber du kannst wirklich noch arbeiten, bist doch noch jung. " Dann wurde die alte Dirne sentimental.
" Ich will doch aber nicht so sterben wie diese Alte da, aber-----"
Die Alte, die auf die Dirne wies, hatte die Knie angezogen und das Gesicht zum Schutz gegen die Kälte in die Hände gelegt. Diese Alte war die "schwerste Verbrecherin" unter ihnen. Sie hatte das Haus eines Arztes angesteckt. Sie wollte sich an dem Arzt für den Tod ihres Enkels rächen, der nur deshalb gestorben war, weil sie kein Geld hatte, um dem Arzt die Medizin zu bezahlen.
Die Alte stand auf und ging, schwankend zwischen Ohnmacht, verzweifelter Qual und Schmerzen, hin und her. Sie wimmerte und griff sich mit den Händen an den grauhaarigen Kopf. Die Dirne sah sie mit offenem Munde an.
Die Alte glaubte noch an das Bild von "Himmel und Hölle", das ihr von Kindheit an eingeprägt war. Sie beichtete ihre Sünden.
Das Bild von "Himmel und Hölle", das in ihr Herz eingegraben war, bewies ihr, daß der Arzt recht hatte, ihren Enkel, den einzigen Lichtblick auf dieser Welt sterben zu lassen, weil sie ihm die Medizin nicht bezahlt hatte. Das Bild verurteilte sie auch, weil sie sich gerächt und das Haus des Arztes in Brand gesteckt hatte. Als nun auch noch schlecht von ihr gesprochen wurde, zerschnitt ein neuer Schmerz ihren Körper. "Heule nicht so, immer fängt sie wieder an", schrie der Junge; er stieß an Takaes Knie und richtete sich auf. Dieser vierzehnjährige Junge hatte das Bild von "Himmel und Hölle" nicht gesehen, dieses Lumpenknäuel kannte nur das Leben, das in der Nacht in den Röhren beim Straßenbau, auf leeren Hausböden oder in der Polizeizelle schläft und am Tage überall herumstreift, wo es nach Essen riecht.
" Ach, ich kann dabei nicht schlafen." Murrend schlief der Junge wieder ein. Er hatte an diesem schon gewohnten Ort keinen Grund traurig zu sein.
Plötzlich hörte man über den Köpfen Tritte von harten Schuhen. Takae trat an das Gitter und preßte ihr Gesicht an die metallnen Stäbe. Eine vertraute Frauenstimme schrie: "Ich weiß nicht, ich weiß davon gar nichts."
Ohne Zweifel war es Okayo, die da oben schrie. Takaes Körper zog sich vor ohnmächtiger Wut und Schmerz krampfhaft zusammen. Der schwarze Schatten eines Kriminalbeamten ging an dem Fenster auf dem Gang vorbei. Jetzt hörte es sich an, als ob man eindringlich etwas frage. Aber Okayos Stimme wiederholte hartnäckig, daß sie nichts wisse. "O weh, o weh", schrie Okayo in wildem Schmerz. Der Beamte schien ihr die Arme ausgedreht zu haben. Aufgescheucht schlug Takae mit den Fäusten gegen das Gitter und schrie: "Teufel! Schweine! Bestien!"
Aber nur harte Sohlen trampelten als Antwort darauf gegen das Gitter. Dann hörte sie die Stimme Okayos nicht mehr. Die harten Schritte des Kriminalbeamten hatten sich gleichfalls entfernt. Takae konnte keine Ruhe finden. -
Die Kälte der Dämmerung kroch ihr unter die Fußnägel, drang in ihre Kniegelenke und kitzelte in den Schenkeln.
Am nächsten Morgen öffnete ein Wärter die Türen der Zellen und führte die Leute einzeln auf den Abort. Okayo hatte sich in dieser einen Nacht völlig verändert. Ihr blasses geschwollenes Gesicht, ihre blutunterlaufenen Augen, ihre unordentliche Kleidung, alles erzählte von den Mißhandlungen der vergangenen Stunden.
Sie trat mit zusammengebissenen Zähnen auf den Gang, wie eine Seekranke schwankte sie durch die Gänge, sich mit einer Hand an der eiskalten Wand stützend. Der Säbel des Wärters trieb sie vorwärts. Als sie durch den zweiten Gang, tief wie ein Tunnel, ging, sah sie unerwartet Menschen vor sich.
" Oh!" Okayo blieb mit weit aufgerissenen Augen stehen, - da stand Miatji die Hände mit Ketten gefesselt; er sah zehn Jahre älter aus. Sie konnte nicht einmal den Mund öffnen.
Miatji bewegte seine Lippen, aber es wurde kein Wort; auf seinen geschwollenen Backenknochen waren dunkelblaue Flecken wie Schorf. "Was machen Sie!" Der Wärter, der hinter Miatji stand, stieß ihn in den Rücken. Miatji verlor jeden Halt, fiel gegen die Wand und wankte einige Schritte vor. Das Ganze dauerte nur drei oder vier kurze Minuten - länger konnte sie ihm auch nicht nachsehen. Die starke Erregung ließ ihr Herz erstarren.
Sie wußte, wo ihre Schwester saß, aber sie weinte schon nicht mehr. Sie saß in der Ecke der Zelle und tat hier und da einen tiefen Atemzug. Ihr Frühstück wurde durch das Gitter geschoben wie Vogelfutter, aber das Essen in dem viereckigen Kasten machte ihr keinen Appetit. Okayo starrte den viereckigen Kasten an und schob ihn wieder durch das Gitter zurück.
" Ach, ich glaube, ich werde hier sterben." Tag und Nacht - sie trank nicht mehr, nicht einmal Wasser. Am nächsten Morgen wurden Oja und Takae herausgelassen; man hatte sie kaum vernommen; die Polizei fand keinen Grund, sie in Untersuchungshaft zu behalten. Als sie ins Freie traten, blendete das helle Sonnenlicht ihre Augen; am Hintertor des Polizeiamtes sah Takae den Beamten, der Okayo verhaftet hatte.
" Hallo, verzeihen Sie, ich möchte gerne wissen, ob man Okayo Haruki schon herausgelassen hat?" fragte Takae höflich, ihren Haß verbergend. "Ich weiß nicht", sagte der Beamte gleichgültig, " das ist nicht mein Ressort."
Takae war verzweifelt, doch sie zögerte noch, ihm von der Schwangerschaft der Schwester zu erzählen - sie konnte nicht bitten; außerdem mußte sie erst Gelegenheit haben, diese Sache mit Miatji zu erklären. Der Beamte sagte, um weiteren Fragen auszuweichen: "Vielleicht ist sie schon zu Haus, das kann man nicht wissen, vielleicht ist sie schon vor Ihnen gegangen, gehen Sie nur schnell nach Hause. " Sie wußte natürlich, daß diese Worte sie nur ablenken sollten und sie hatte keinen Grund, weiter zu fragen. Aber sie klammerte sich doch an diese einzige kleine Hoffnung und folgte Oja.
Draußen wurden sie von Fusa-tjan und Ogin-tjan und einigen anderen Kolleginnen empfangen. Takae verabschiedete sich kurz und ging eilends ihrem Hause zu. Okayo war nicht da.
Sie hatte keinen Mut, etwas anzufangen; sie stand in dem lange nicht aufgeräumten Hause herum und sah gedankenlos ins Leere. "Was macht Okayo?" fragte der alte Kranke als erstes. Ohne ihm zu antworten und ohne sich erst auszuruhen, ging sie wieder von Hause fort.
Sie sah ein, daß es zwecklos sei, noch einmal auf der Polizeiwache nachzufragen, auch durch den Vertreter der Streikleitung bei der Polizei etwas unternehmen zu lassen, würde in dieser Zeit, in der immer 20 bis 30 Genossen in Haft waren, viel zu lange dauern. Dort waren alle mehr als reichlich beschäftigt.
Takae ging über die Senkawa-Brücke; einige Straßen weiter, kam an den Fuß des Haksuanabhanges; sie wußte, in einem zweistöckigen Haus am Abhang wohnte Hagimura in einer kleinen Kammer. Rechts an der Tür ging eine steile Treppe hinauf, oben war eine Papiertür. Sie rief: "Genosse Hagimura!"
Nach einer Weile antwortete eine tiefe heisere Stimme. Sie öffnete die Tür und trat ein. Hagimura erhob sich vom Bett und rief erstaunt, seine vom Schlaf geschwollenen Augen krampfhaft aufgerissen: "Aha, du bist wieder da!" Er hatte von ihrer Verhaftung gehört. "Was macht Kayo-tjan?"
Takae kniete an seinem Bett nieder und berichtete kurz das Vorgefallene.
" Alles wäre nicht so schlimm, wenn meine Schwester nicht in diesem Zustand wäre - aber du weißt doch. Und deshalb komme ich um Rat zu dir. "
Hagimura drehte sich unter den Decken herum. Erst vor noch nicht zwei Stunden hatte er sich schlafen gelegt; er war in der Frühe von einer Sitzung der höchsten Streikleitung nach Hause gekommen. Er kannte einen jungen Rechtsanwalt, der als Sekretär aktiv in der Arbeiter-und Bauernpartei arbeitete und schlug vor, jetzt gleich zu ihm hinzugehen. "Aber Moment mal", brummte er und blinzelte Takae an, aber sie verstand nicht, was er meinte.
" Nach der anderen Seite sehen - ich muß doch aufstehen." Takae wurde verlegener als Hagimura - was war sie für eine dumme Frau. Sie trat rasch an die Tür, senkte den Kopf und spürte den Geruch des hinter ihr aufstehenden Mannes. Als er schnell Anzug und Mantel angezogen hatte, sah sie wieder zu ihm hin und sagte: "Siehst du, ich bin so eine dumme Frau. "
Sie stiegen den Haksuanabhang hinauf und kamen in die Nishikatastraße. Mit dem Rücken zur Straßenbahn standen oben am Abhang die großen Villen.
" Taka-tjan, diese Straße herunter, das große Eckhaus dahinten gehört auch dem Okawa", erklärte Haigumura und wies mit dem Kinn in die Richtung. Da stand drohend das schwarze Tor, wie bei einem Schloß aus der Feudalzeit. Um den Spitzeln, die sicher vor dem Haustor des Direktors herumstanden, nicht aufzufallen, bogen sie vor dem Hause zur Straßenbahnstraße ab.
Während sie die hohe Mauer aus künstlichem Stein entlanggingen, mußte Takae die Enden ihres Schals festhalten, um mit schnellen Schritten dem vorauseilenden Manne folgen zu können.
" Hoppla!" Plötzlich blieb sie sehen, von irgendwoher kam ein roter Ball geflogen, prallte gegen ihr Bein und rollte in den Graben unter- halb der Mauer.
" Bitte, geben Sie mir meinen Ball" bat von der Tür her ein hübsches Mädchen, das den Ball geworfen hatte. Die Kleine war etwa sechs Jahre alt und trug eine Pony-Frisur auf ihrem wohlgenährten Köpfchen. Sie wiederholte:
" Fräulein, geben Sie mir den Ball. "
Der hübsche kleine Mund befahl. - Zweifellos gehörte diese Hintertür zum Hause Okawas - dann war also dieses Mädchen sicher ein Kind oder Enkelkind von Okawa. Takae trat näher heran und sah eindringlich auf das hochmütige Kind, das mit erhobenem Arm befehlend auf den Ball wies. Aber als es dem eiskalten Blick Takaes begegnete, zog es rasch seine Hand zurück, als hätte es einen elektrischen Schlag bekommen und sein Gesicht verfärbte sich.
Da kam ein Kindermädchen; Takae zwang sich mit Gewalt höflich und lächelte das Kind an. Das Kinderfräulein stand hinter dem Mädchen, das endlich wieder guter Laune war, und nickte.
" Wie heißt du? - Fräulein Eisuko? - Du kannst aber schon gut deinen Namen sagen. "
Takae sagte das so fließend, daß sie selbst darüber erstaunte. Sie streichelte das Kind und eilte Hagimura nach, der vorausgegangen war und auf sie wartete. "Was war denn da los?" Sie war vom schnellen Laufen außer Atem.
" Das Mädchen war Okawas Enkelkind", erklärte sie und wies nach rückwärts auf die Hintertür, an der das kleine Mädchen immer noch stand und den beiden nachsah. "Ach so, das ist also Okawas einzigster Schatz!"
Дата добавления: 2018-02-15; просмотров: 733; Мы поможем в написании вашей работы! |
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