Verwandlung in beliebige Tiere und Pflanzen 6 страница



Es ist klar, daß dies schwache und ängstliche Wesen, existierte es auch in noch so großer Anzahl, sich nicht halten kann, daß es vermöge seiner Eigenschaften in der Welt keine andre Rolle spielen könnte als die einer Lämmerherde zwischen freischweifenden Wölfen. Dennoch sehen wir, daß zwar in Zeiten des Regiments sehr starker Naturen der Bürger sofort an die Wand gedrückt wird, daß er aber niemals untergeht, zuzeiten sogar anscheinend die Welt beherrscht. Wie ist das möglich? Weder die große Zahl seiner Herde, noch die Tugend, noch der common sense, noch die Organisation wären stark genug, ihn vor dem Untergang zu retten. Wessen Lebensintensität von vornherein so sehr geschwächt ist, den kann keine Medizin der Welt am Leben erhalten. Und dennoch lebt das Bürgertum, ist stark und gedeiht. – Warum?

Die Antwort lautet: Wegen der Steppenwölfe. In der Tat beruht die vitale Kraft des Bürgertums keineswegs auf den Eigenschaften seiner normalen Mitglieder, sondern auf denen der außerordentlich zahlreichen Outsiders, die es infolge der Verschwommenheit und Dehnbarkeit seiner Ideale mit zu umschließen vermag. Es lebt im Bürgertum stets eine große Menge von starken und wilden Naturen mit. Unser Steppenwolf Harry ist ein charakteristisches Beispiel. Er, der weit über das dem Bürger mögliche Maß hinaus zum Individuum entwickelt ist, er, der die Wonne der Meditation ebenso wie die düstern Freuden des Hasses und Selbsthasses kennt, er, der das Gesetz, die Tugend und den common sense verachtet, ist dennoch ein Zwangshäftling des Bürgertums und kann ihm nicht entrinnen. Und so lagern um die eigentliche Waffe des echten Bürgertums weite Schichten der Menschheit, viele Tausende von Leben und Intelligenzen, deren jede dem Bürgertum zwar entwachsen und für ein Leben im Unbedingten berufen wäre, deren jede aber, durch infantile Gefühle der Bürgerlichkeit anhängend und von ihrer Schwächung der Lebensintensität ein Stück weit angesteckt, dennoch irgendwie im Bürgertum verharrt, ihm irgendwie hörig, verpflichtet und dienstbar bleibt. Denn dem Bürgertum gilt der umgekehrte Grundsatz der Großen: Wer nicht wider mich ist, der ist für mich!

Prüfen wir daraufhin die Seele des Steppenwolfes, so stellt er sich dar als Mensch, den schon sein hoher Grad von Individuation zum Nichtbürger bestimmt – denn alle hochgetriebene Individuation kehrt sich gegen das Ich und neigt wieder zu dessen Zerstörung. Wir sehen, daß er sowohl nach dem Heiligen wie nach dem Wüstling hin starke Antriebe in sich hat, jedoch aus irgendeiner Schwächung oder Trägheit heraus den Schwung in den freien wilden Weltraum nicht nehmen konnte und an das schwere mütterliche Gestirn des Bürgertums gebannt bleibt. Dies ist seine Lage im Raum der Welt, dies seine Gebundenheit. Die allermeisten Intellektuellen, der größte Teil der Künstlermenschen gehört demselben Typus an. Nur die stärksten von ihnen durchstoßen die Atmosphäre der Bürgererde und gelangen ins Kosmische, die andern alle resignieren oder schließen Kompromisse, verachten das Bürgertum und gehören ihm dennoch an und stärken und verherrlichen es, indem sie letzten Endes es bejahen müssen, um noch leben zu können. Es reicht diesen zahllosen Existenzen nicht zur Tragik, wohl aber zu einem recht ansehnlichen Mißgeschick und Unstern, in dessen Hölle ihre Talente gar gekocht und fruchtbar werden. Die wenigen, die sich losreißen, finden ins Unbedingte und gehen auf bewundernswerte Weise unter, sie sind die Tragischen, ihre Zahl ist klein. Den andern aber, den Gebundenbleibenden, deren Talenten oft das Bürgertum große Ehre zollt, ihnen steht ein drittes Reich offen, eine imaginäre, aber souveräne Welt: der Humor. Die friedlosen Steppenwölfe, die beständig und furchtbar leidenden, denen die zur Tragik, zum Durchbruch in den Sternenraum erforderliche Wucht versagt ist, die sich zum Unbedingten berufen fühlen und doch in ihm nicht zu leben vermögen: ihnen bietet sich, wenn ihr Geist im Leiden stark und elastisch geworden ist, der versöhnliche Ausweg in den Humor. Der Humor bleibt stets irgendwie bürgerlich, obwohl der echte Bürger unfähig ist, ihn zu verstehen. In seiner imaginären Sphäre wird das verzwickte, vielspältige Ideal aller Steppenwölfe verwirklicht: hier ist es möglich, nicht nur gleichzeitig den Heiligen und den Wüstling zu bejahen, die Pole zueinander zu biegen, sondern auch noch den Bürger in die Bejahung einzubeziehen. Es ist ja dem Gottbesessenen sehr wohl möglich, den Verbrecher zu bejahen, und ebenso umgekehrt, ihnen beiden aber, und allen anderen Unbedingten, ist es unmöglich, auch noch jene neutrale laue Mitte, das Bürgerliche, zu bejahen. Einzig der Humor, die herrliche Erfindung der in ihrer Berufung zum Größten Gehemmten, der beinahe Tragischen, der höchstbegabten Unglücklichen, einzig der Humor (vielleicht die eigenste und genialste Leistung des Menschentums) vollbringt dies Unmögliche, überzieht und vereinigt alle Bezirke des Menschenwesens mit den Strahlungen seiner Prismen. In der Welt zu leben, als sei es nicht die Welt, das Gesetz zu achten und doch über ihm zu stehen, zu besitzen, „als besäße man nicht", zu verzichten, als sei es kein Verzicht – alle diese beliebten und oft formulierten Forderungen einer hohen Lebensweisheit ist einzig der Humor zu verwirklichen fähig.

Und falls es dem Steppenwolf, dem es an Gaben und Ansätzen dazu nicht fehlt, in der schwülen Wirrnis seiner Hölle noch gelingen sollte, diesen Zaubertrank auszukochen, auszuschwitzen, dann wäre er gerettet. Noch fehlt ihm dazu vieles. Die Möglichkeit aber, die Hoffnung ist vorhanden. Wer ihn liebt, wer an ihm Teil nimmt, mag ihm diese Rettung wünschen. Er würde dadurch zwar für immer im Bürgerlichen verharren bleiben, aber seine Leiden wären erträglich, würden fruchtbar. Sein Verhältnis zur Bürgerwelt, in Liebe und Haß, würde die Sentimentalität verlieren, und sein Gebundensein an diese Welt würde aufhören, ihn beständig als Schande zu quälen.

Um dies zu erreichen, oder um vielleicht am Ende doch noch den Sprung ins Weltall wagen zu können, müßte solch ein Steppenwolf einmal sich selbst gegenübergestellt werden, müßte tief in das Chaos der eigenen Seele blicken und zum vollen Bewußtsein seiner selbst kommen. Seine fragwürdige Existenz würde sich ihm alsdann in ihrer ganzen Unabänderlichkeit enthüllen, und es würde ihm fernerhin unmöglich werden, sich immer wieder aus der Hölle seiner Triebe in sentimentalphilosophische Tröstungen und aus diesen wieder in den blinden Rausch seines Woltums hinüberzuflüchten. Mensch und Wolf würden genötigt sein, einander ohne fälschende Gefühlsmasken zu erkennen, einander nackt in die Augen zu sehen. Dann würden sie entweder explodieren und für immer auseinandergehen, so daß es keinen Steppenwolf mehr gäbe, oder sie würden unter dem aufgehenden Licht des Humors eine Vernunftehe schließen.

Möglich, daß Harry eines Tages vor diese letzte Möglichkeit geführt wird. Möglich, daß er eines Tages sich erkennen lernt, sei es, daß er einen unsrer kleinen Spiegel in die Hand bekomme, sei es, daß er den Unsterblichen begegnete oder vielleicht in einem unsrer magischen Theater dasjenige finde, wessen er zur Befreiung seiner verwahrlosen Seele bedarf. Tausend solche Möglichkeiten warten auf ihn, sein Schicksal zieht sie unwiderstehlich an, alle diese Außenseiter des Bürgertums leben in der Atmosphäre dieser magischen Möglichkeiten. Ein Nichts genügt, und der Blitz schlägt ein.

Und dies alles ist dem Steppenwolf, auch wenn er niemals diesen Abriß seiner inneren Biographie zu Gesicht bekommt, sehr wohl bekannt. Er ahnt seine Stellung im Weltgebäude, er ahnt und kennt die Unsterblichen, er ahnt und fürchtet die Möglichkeit einer Selbstbegegnung, er weiß vom Vorhandensein jenes Spiegels, in den zu blicken er so bitter nötig hätte, in den zu blicken er sich so tödlich fürchtet.

Zum Schluß unsrer Studie bleibt noch eine letzte Fiktion, eine grundsätzliche Täuschung aufzulösen. Alle „Erklärungen", alle Psychologie, alle Versuche des Verstehens bedürfen ja der Hilfsmittel, der Theorien, der Mythologien, der Lügen; und ein anständiger Autor sollte es nicht unterlassen, am Schluß einer Darstellung diese Lügen nach Möglichkeit aufzulösen. Wenn ich sage „Oben" oder „Unten", so ist das ja schon eine Behauptung, welche Erklärung fordert, denn ein Oben und Unten gibt es nur im Denken, nur in der Abstraktion. Die Welt selbst kennt kein Oben noch Unten.

So ist denn auch, um es kurz zu sagen, der „Steppenwolf" eine Fiktion. Wenn Harry sich selbst als Wolfsmenschen empfindet und aus zwei feindlichen und gegensätzlichen Wesen zu bestehen meint, so ist das lediglich eine vereinfachende Mythologie. Harry ist gar kein Wolfsmensch, und wir seine, von ihm selbst erfundene und geglaubte Lüge scheinbar mit übernahmen und ihn tatsächlich als Doppelwesen, als Steppenwolf zu betrachten und zu deuten suchten, so machten wir uns in der Hoffnung auf leichteres Verstandenwerden eine Täuschung zunutze, deren Richtigstellung jetzt versucht werden soll.

Die Zweiteilung in Wolf und Mensch, in Trieb und Geist, durch welche Harry sich sein Schicksal verständlicher zu machen sucht, ist eine sehr grobe Vereinfachung, eine Vergewaltigung des Wirklichen zugunsten einer plausiblen, aber irrigen Erklärung der Widersprüche, welche dieser Mensch in sich vorfindet und die ihm die Quelle seiner nicht geringen Leiden zu sein scheinen. Harry findet in sich einen „Menschen", das heißt eine Welt von Gedanken, Gefühlen, von Kultur, von gezähmter und sublimierter Natur, und erfindet daneben in sich auch noch einen „ Wolf", das heißt eine dunkle Welt von Trieben, von Wildheit, Grausamkeit, von nicht sublimierter, roher Natur. Trotz dieser scheinbar so klaren Einteilung seines Wesens in zwei Sphären, die einander feindlich sind, hat er es aber je und je erlebt, daß Wolf und Mensch sich für eine Weile, für einen glücklichen Augenblick miteinander vertrugen. Wollte Harry in jedem einzelnen Moment seines Lebens, in jeder seiner Taten, in jeder seiner Empfindungen festzustellen versuchen, welchen Anteil daran der Mensch, welchen Anteil der Wolf habe, so käme er sofort in die Klemme, und seine ganze hübsche Wolftheorie ging in die Brüche. Denn kein einziger Mensch, auch nicht der primitivste Neger, auch nicht der Idiot, ist so angenehm einfach, daß sein Wesen sich als die Summe von nur zweien oder dreien Hauptelementen erklären ließe; und gar einen so sehr differenzierten Menschen wie Harry mit der naiven Einteilung von Wolf und Mensch zu erklären, ist ein hoffnungslos kindlicher Versuch. Harry besteht nicht aus zwei Wesen, sondern aus hundert, aus tausenden. Sein Leben schwingt (wie jedes Menschen Leben) nicht bloß zwischen zwei Polen, etwa dem Trieb und dem Geist oder dem Heiligen und dem Wüstling, sondern es schwingt zwischen tausenden, zwischen unzählbaren Polpaaren.

Daß ein so unterrichteter und kluger Mensch wie Harry sich für einen „Steppenwolf" halten kann, daß er das reiche und komplizierte Gebilde seines Lebens in einer so schlichten, so brutalen, so primitiven Formel glaubt unterbringen zu können, darf uns nicht in Verwunderung setzen. Der Mensch ist des Denkens nicht in hohem Maße fähig, und auch noch der geistigste und gebildetste Mensch siebt die Welt und sich beständig durch die Brille sehr naher, vereinfachender und umlügender Formeln an – am meisten aber sich selbst! Denn es ist ein, wie es scheint, eingeborenes und völlig zwanghaft wirkendes Bedürfnis aller Menschen, daß jeder sein Ich als eine Einheit sich vorstelle. Mag dieser Wahn noch so oft, noch so schwer erschüttert werden, er heilt stets wieder zusammen. Der Richter, der dem Mörder gegenübersitzt und in sein Auge sieht und einen Augenblick lang den Mörder mit seiner eigenen (des Richters) Stimme reden hört und alle seine Regungen, Fähigkeiten, Möglichkeiten auch in seinem eigenen Innern vorfindet, er ist schon im nächsten Augenblick wieder Eins, ist Richter, schnellt in die Schale seines eingebildeten Ichs zurück, tut seine Pflicht und verurteilt den Mörder zum Tode. Und wenn in besonders begabten und zart organisierten Menschenseelen die Ahnung ihrer Vielspältigkeit aufdämmert, wenn sie, wie jedes Genie, den Wahn der Persönlichkeitseinheit durchbrechen und sich als mehrteilig, als ein Bündel aus vielen Ichs empfinden, so brauchen sie das nur zu äußern, und alsbald sperrt die Majorität sie ein, ruft die Wissenschaft zu Hilfe, konstatiert Schizophrenie und beschützt die Menschheit davor, aus dem Munde dieser Unglücklichen einen Ruf der Wahrheit vernehmen zu müssen. Nun, wozu hier Worte verlieren, wozu Dinge aussprechen, welche zu wissen sich für jeden Denkenden von selbst versteht, welche zu äußern jedoch nicht Sitte ist? – Wenn nun also ein Mensch schon dazu vorschreitet, die eingebildete Einheit des Ichs zur Zweiheit auszudehnen, so ist er schon beinahe ein Genie, jedenfalls aber eine seltene und interessante Ausnahme. In Wirklichkeit aber ist kein Ich, auch nicht das naivste, eine Einheit, sondern eine höchst vielfältige Welt, ein kleiner Sternhimmel, ein Chaos von Formen, von Stufen und Zuständen, von Erbschaften und Möglichkeiten. Daß jeder einzelne dies Chaos für eine Einheit anzusehen bestrebt ist und von seinem Ich redet, als sei dies eine einfache, fest geformte, klar umrissene Erscheinung: diese, jedem Menschen (auch dem höchsten) geläufige Täuschung scheint eine Notwendigkeit zu sein, eine Forderung des Lebens wie Atemholen und Essen.

Die Täuschung beruht auf einer einfachen Übertragung. Als Körper ist jeder Mensch eins, als Seele nie. Auch in der Dichtung, selbst in der raffiniertesten, wird herkömmlicherweise stets mit scheinbar ganzen, scheinbar einheitlichen Personen operiert. An der bisherigen Dichtung schätzen die Fachleute, die Kenner am höchsten das Drama, und mit Recht, denn es bietet (oder böte) die größte Möglichkeit zur Darstellung des Ichs als einer Vielheit – wenn dem nicht der grobe Augenschein widerspräche, der uns jede einzelne Person eines Dramas, da sie in einem unweigerlich einmaligen, einheitlichen, abgeschlossenen Körper steckt, als Einheit vortäuscht. Am höchsten schätzt denn auch die naive Ästhetik das sogenannte Charakterdrama, in dem jede Figur recht kenntlich und abgesondert als Einheit auftritt. Nur von ferne erst und allmählich dämmert die Ahnung in Einzelnen, daß das vielleicht alles eine billige Oberflächenästhetik ist, daß wir irren, wenn wir auf unsre großen Dramatiker die herrlichen, uns aber nicht eingeborenen, sondern bloß aufgeschwatzten Schönheitsbegriffe der Antike anwenden, welche, überall vom sichtbaren Leibe ausgehend, recht eigentlich die Fiktion vom Ich, von der Person, erfunden hat. In den Dichtungen des alten Indien ist dieser Begriff ganz unbekannt, die Helden der indischen Epen sind nicht Personen, sondern Personenknäuel, Inkarnationsreihen. Und in unsrer modernen Welt gibt es Dichtungen, in denen hinter dem Schleier des Personen- und Charakterspiels, dem Autor wohl kaum ganz bewußt, eine Seelenvielfalt darzustellen versucht wird. Wer dies erkennen will, der muß sich entschließen, einmal die Figuren einer solchen Dichtung nicht als Einzelwesen anzusehen, sondern als Teile, als Seiten, als verschiedene Aspekte einer höheren Einheit (meinetwegen der Dichterseele). Wer etwa den Faust auf diese Art betrachtet, für den wird aus Faust, Mephisto, Wagner und allen ändern eine Einheit, eine Überperson, und erst in dieser höhern Einheit, nicht in den Einzelfiguren, ist etwas vom wahren Wesen der Seele angedeutet. Wenn Faust den unter den Schullehrern berühmten, vom Philister mit Schauer bewunderten Spruch sagt: „Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust!", dann vergißt er den Mephisto und eine ganze Menge andrer Seelen, die er ebenfalls in seiner Brust hat. Auch unser Steppenwolf glaubt ja, zwei Seelen (Wolf und Mensch) in seiner Brust zu tragen, und findet seine Brust dadurch schon arg beengt. Die Brust, der Leib, ist eben immer eines, der darin wohnenden Seelen aber sind nicht zwei oder fünf, sondern unzählige; der Mensch ist eine aus hundert Schalen bestehende Zwiebel, ein aus vielen Fäden bestehendes Gewebe. Erkannt und genau gewußt haben dies die alten Asiaten, und im buddhistischen Yoga ist eine genaue Technik dafür erfunden, den Wahn der Persönlichkeit zu entlarven. Lustig und vielfältig ist das Spiel der Menschheit: der Wahn, zu dessen Entlarvung Indien tausend Jahre lang sich so sehr angestrengt hat, ist derselbe, zu dessen Stützung und Stärkung der Okzident sich ebenso viele Mühe gegeben hat.

Betrachten wir von diesem Standpunkt aus den Steppenwolf, so wird uns klar, warum er so sehr unter seiner lächerlichen Zweiheit leidet. Er glaubt, wie Faust, daß zwei Seelen für eine einzige Brust schon zuviel seien und die Brust zerreißen müßten. Sie sind aber im Gegenteil viel zu wenig, und Harry vergewaltigt seine arme Seele furchtbar, wenn er sie in einem so primitiven Bilde zu begreifen sucht. Harry verfährt, obwohl er ein hochgebildeter Mensch ist, etwa wie ein Wilder, der nicht über zwei hinaus zählen kann. Er nennt ein Stück von sich Mensch, ein andres Wolf, und damit glaubt er schon am Ende zu sein und sich erschöpft zu haben. In den „Menschen" packt er alles Geistige, Sublimierte oder doch Kultivierte hinein, das er in sich vorfindet, und in den Wolf alles Triebhafte, Wilde und Chaotische. Aber so simpel wie in unsern Gedanken, so grob wie in unsrer armen Idiotensprache geht es im Leben nicht zu, und Harry belügt sich doppelt, wenn er diese negerhafte Wolfsmethode anwendet. Harry rechnet, so fürchten wir, ganze Provinzen seiner Seele schon zum „Menschen", die noch lange nicht Mensch sind, und rechnet Teile seines Wesens zum Wolfe, die längst über den Wolf hinaus sind.

Wie alle Menschen, so glaubt auch Harry recht wohl zu wissen, was der Mensch sei, und weiß es doch durchaus nicht, obschon er es, in Träumen und anderen schwer kontrollierbaren Bewußtseinszuständen, nicht selten ahnt. Möchte er diese Ahnungen nicht vergessen, möchte er sie sich doch möglichst zu eigen machen! Der Mensch ist ja keine feste und dauernde Gestaltung (dies war, trotz entgegengesetzter Ahnungen ihrer Weisen, das Ideal der Antike), er ist vielmehr ein Versuch und Übergang, er ist nichts andres als die schmale, gefährliche Brücke zwischen Natur und Geist. Nach dem Geiste hin, zu Gott hin treibt ihn die innerste Bestimmung – nach der Natur, zur Mutter zurück zieht ihn die innigste Sehnsucht: zwischen beiden Mächten schwankt angstvoll bebend sein Leben. Was die Menschen jeweils unter dem Begriff „Mensch" verstehen, ist stets nur eine vergängliche bürgerliche Übereinkunft. Gewisse roheste Triebe werden von dieser Konvention abgelehnt und verpönt, ein Stück Bewußtsein, Gesittung und Entbestialisierung wird verlangt, ein klein wenig Geist ist nicht nur erlaubt, sondern wird sogar gefordert. Der „Mensch" dieser Konvention ist, wie jedes Bürgerideal, ein Kompromiß, ein schüchterner und naiv-schlauer Versuch, sowohl die böse Urmutter Natur wie den lästigen Urvater Geist um ihre heftigen Forderungen zu prellen und in lauer Mitte zwischen ihnen zu wohnen. Darum erlaubt und duldet der Bürger das, was er „Persönlichkeit" nennt, Iiefert die Persönlichkeit aber gleichzeitig jenem Moloch „Staat" aus und spielt beständig die beiden gegeneinander aus. Darum verbrennt der Bürger heute den als Ketzer, hängt den als Verbrecher, dem er übermorgen Denkmäler setzt.


Дата добавления: 2019-02-12; просмотров: 213; Мы поможем в написании вашей работы!

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